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Die eigene Geschichte verstehen- über sinnerfassendes Lernen und Zeit.






"1 In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist denn der Größte im Reich[1] der Himmel? 2 Und als Jesus ein Kind herbeigerufen hatte, stellte er es in ihre Mitte 3 und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich[2] der Himmel hineinkommen. 4 Darum, wenn jemand sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich[3] der Himmel; 5 und wenn jemand ein solches Kind aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt er mich auf. 6 Wenn aber jemand eines dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt[4], für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde." (Matthäus 18, 1 ff,  rev. Elb.2006)

Meine lieben Freunde und Follower,


wenn ich im Rahmen meines Jobs auf den Schulhof unserer kleinen Schule komme, sind die Kinder, die auf mich zurennen und mich umarmen, grundsätzlich die, die es gerade nicht einfach haben. Es ist eine freundliche Umschreibung der häuslichen Zustände, die viele Kinder mitbringen. Sie fliegen mir in die Arme. Sie umarmen mich, strahlen mich an, danken mir, dass ich ihnen Kraft gegeben habe durch Worte oder ein kurzes Gespräch für Termine, mit denen sie überfordert sind.

Sie erzählen mir von ihren Spielen, von ihren Geburtstagen und auch davon, wie schrecklich es ist, dass sie nicht nach Hause können an Festtagen. Sie erzählen mir von ihren inneren Kämpfen und Konflikten. Öfter jedoch ist ihr Lächeln ein Lächeln des:

"Danke, dass du mich ernst nimmst. Danke, dass du verstehst, dass wir wirklich einen Fussball brauchen. Danke, dass du uns nach unserer Meinung fragst. Danke, dass du einfach da bist."


Sie nehmen mich als sichere Person wahr.


Seit ich dort im Nachmittagsprogramm der Grundschule arbeite, Lehrer vertrete und mit den Kids zwei Stunden am Tag auf dem Schulhof verbringe, bin auch ich durch sie gesegnet. Ich bin gesegnet durch Kindheitserinnerungen, damit, dass mir ein gewisses Grundgefühl für mich selbst zurückgegeben wird. Ob ich das Kind sehe, das am Rand steht und traurig ist, heute ausgeschlossen zu sein- ich erinnere mich, ich fühle mich, und Szenen kehren zurück, die ich längst vergessen hatte. Ich weiß, wie es schmerzt, ich weiß, wie allein und ungewollt man sich fühlen kann, wenn niemand wirklich Lust hat, mit einem zu spielen. Ich erinnere mich.


Ich erinnere mich aber auch an die Freude, an das Gefühl, ins Spiel vertieft zu sein und die Welt um mich herum völlig zu vergessen. Ich erinnere mich an das Gefühl, dass da jemand erwachsenes ist, zu dem man kommen kann, wenn man überfordert ist, weil ein anderes Kind boxt, schlägt oder piesackt- oder auch, um einfach etwas wirklich faszinierendes, fast magisches zu teilen.


Die Zeit verlangsamt sich in diesen Stunden.


Plötzlich ist nichts wichtiger, als verfügbar zu sein, gemeinsam zu lachen, Lösungen zu finden und - zu erzählen. In einer solchen Arbeitswoche sehe ich unzählige Schneckenheime, Feuerkäfer-Stationen, tiefe, unheimliche Tunnelsysteme in Sandkästen und freue mich mit den Kindern über die Pferde, die an die Schulwiese angrenzen. Ich freue mich mit ihnen in derselben aufgeregten Freude an Schneetagen darauf, dass sie in den langen Pausen, der langen Betreuung rodeln können- und ich bin genauso frustriert wie sie, wenn es regnet und wir nicht draußen sein können. Ich erinnere mich, wie wichtig eine Umarmung ist, wenn das Knie blutet oder der Kopf einen Eispack braucht, weil man -einfach verträumt und in der eigenen Welt versunken- plötzlich ungebremst mit einem Baum zusammenstößt.


Meine kleine Herde.


Ich lächle. Ja, sie segnen mich, diese oft so lauten, anstrengenden Rangen. Sie erinnern mich an die Freude an Bewegung, an Entdeckergeist und daran, dass das Leben gar nicht so kompliziert ist, wie wir Erwachsenen es machen. Daran auch, dass wir oft unfähig geworden sind, die kleinen Wunder und Schönheiten durch unsere überladene, erwachsene Brille noch zu sehen.


Vor allem aber erkenne ich eines erneut:

Wachstum, Lernen: Es braucht seine Zeit.

Es gibt keine Abkürzungen auf dem Weg des Lernens, keine schnellen Antworten, und bis man die Uhr wirklich lesen kann, muss man ganz schön viel verstanden haben: Dass eine Stunde 60 Minuten hat. Dass ein Tag 24 Stunden hat. Dass die Uhr immer 5 Minuten Abstände anzeigt- und dass man das 5er Einmaleins können muss, um die Minuten richtig zu zählen. Dass es eigentlich unlogisch ist, dass bei "Viertel vor sieben" eine Sechs vorne steht. Und dass man dranbleiben muss.


"Gibt doch Handys!" meinte neulich ein völlig lernunwilliger Junge zu mir: "Was soll ich denn den ganzen Kram lernen, wenn ich doch einfach aufs Handy gucken kann?"

"Gibt doch Taschenrechner im Handy!" meinte neulich ein anderes Kind, als es darum ging, richtig rechnen zu lernen.


Ich denke, wir sind uns einig, dass eine Handyuhr nicht die Basisfähigkeit ersetzen sollte, die Uhr zu lesen, und ich hoffe, wir sind uns noch mehr einig darüber, dass rechnen eine Grundfähigkeit ist, die wir in unserer Gesellschaft unbedingt weiterhin brauchen.

"Ich lese die Bibel nicht, gibt doch genug Leute, die sie für mich auslegen"- ist ein Satz, den ich erschreckend oft höre.

"Es gibt doch Fürbitteangebote. Was soll ich selbst beten? Ich schick denen 50 Euro, damit sie für mich beten, und thats it."

"Bill Johnson sagt aber, Benny Hinn sagt aber, Joyce Meyer sagt aber, Shane Claiborne sagt aber, Allen Arnold sagt aber, mein favorisierter Podcast sagt aber, mein Pastor sagt aber..."


"Und was denkst du darüber?

Was genau sagt er, worauf bezieht er sich, was ist der Kontext, und was ist deine eigene Interpretation? Wo hat er das Zitat her, und ist es wirklich das, was C.S.Lewis gesagt hat, hast du mal geschaut, in welchem Zusammenhang dieser Satz steht?"

"Joa, keine Ahnung, ich finde den Satz halt fruchtbar! Das steht da, das hat er gesagt, also ist das auch so!"

"Hm. Hm. Vor welchem Hintergrund? Was hat er vorher gesagt? Entspricht deine Interpretation seiner überhaupt, und wenn nicht, wie denkst du darüber?"


Meistens kommt an dieser Stelle- gar keine Antwort mehr.


Eines der größten Probleme, das Schulen, Arbeitgeber und Universitäten anklagen ist, dass die Fähigkeit zum "sinnerfassenden Lesen" verloren geht, dass nur noch oberflächliches Wissen vorhanden ist, das nicht wirklich verinnerlicht ist. Sinnerfassendes Lesen befähigt dazu, einer Argumentation folgen zu können, größere Zusammenhänge zu erfassen und deshalb Inhalte korrekt wiedergeben zu können.

Ja, ein Kind, das aufs Handy schaut, weiß, wie spät es ist, aber es hat Zeitzählung nie wirklich verstanden. Ja, ein Kind, das beigebracht bekommt, Sätze gemeinsam anzumarkern, kann diese auswendig lernen, aber den Text hat es dadurch noch lange nicht verstanden.


Wenn wir uns auf eine solche Weise Gott nähern, unserer eigenen Geschichte nähern, werden wir sie niemals wirklich verstehen.


Das Internet hat zu einer Informationsverflachung geführt, die denselben Effekt hat wie das Ablesen der Uhrzeit auf dem Handy oder das richtige Ergebnis im Taschenrechner:

Es wird wiedergegeben, aber es ist derart verkürzt, über die Verfasser so wenig bekannt, dass es stimmen kann- oder auch nicht.

Dazu kommt, dass gerade im christlichen Bereich, und hier insbesondere im gerade so angesagten "Life Coaching" Bereich immer mehr "Experten" auftauchen, deren psychologische Kompetenz so hoch ist wie bei jemandem, der "eben gerne mit kleinen Kindern spielt" in der Sozialarbeit. Ein Jahr- und schwupps- jetzt bist du qualifizierter Seelsorger im Selbststudium. Ein Jahr - und schwupps- bist du Narzissmus- Experte.


Ein Wochenendseminar über Trauma in der Kindheit- und jetzt weißt du alles, was du wissen musst, um in andere Leben reinzusprechen.

Fünf Reels: Und schwupps- jetzt weißt du, wie das mit der Abgrenzung funktioniert. Und natürlich, bei 120 000 Klicks und mehr- muss es auch stimmen.


Ich hatte in den letzten Woche Performance Probleme mit meiner Website. Aus irgend einem mir noch nicht klaren Grund zählte ein Beitragsaufruf dreifach.


Zahlen verdreifachten sich in einem Tempo, das mir völlig schleierhaft ist. Die Artikel wirken jetzt viel gelesener als sie es wirklich sind. Bedeutsamer, weil so viele Leute darauf geklickt haben.

Die Wahrheit ist: Zahlen und Klicks sagen garnichts aus.

Nicht im Zeitalter der KI und der Bots, die eifrig Beiträge weiterteilen, ohne dass sie jemals gelesen werden. Followerzahlen sagen garnichts aus. Im Zeitalter der Fakeprofile und der fehlenden Bereinigung von hohen Followerzahlen sind von 120000 Followern vielleicht nur mehr 10000 aktiv. Und von den 10000 sind vielleicht nur 1000 wiederkehrend, und 200 wirklich involviert.


Ich glaube, dass das Internet beides ist: Segen und Fluch. Aber ich glaube auch, dass es uns in erster Linie die Möglichkeit gibt, zu vermeiden. Wir vermeiden direkten Kontakt. Wir vermeiden direktes Gebet. Wir vermeiden die Qual der Langsamkeit.

Wir vermeiden es, von Gott selbst mit seinem Wort konfrontiert zu werden, und nehmen die Memes, die uns "guttun". Wir ersetzen die lange Kochzeit der Nudelsuppe durch Instant- Yum Yum Nudeln. Wir wissen nicht mehr, wie man eine Salatsauce macht, weil wir die fertige über den Salat kippen. Wir sind verloren in einer Welt der Tiefkühl - und Fixprodukte und wundern uns, warum wir innerlich so leer und unerfüllt bleiben.

Wenn du wirklich mit Jesus gehen willst, ist das eine ernste Entscheidung.

Der Heilige Geist als Lehrer wird dich so lange die Zeiger der Uhr drehen lassen und die 5er Reihe des Einmaleins mit dir durchgehen, bis du die Uhr verstanden hast. Er wird dir nicht erlauben, das Ergebnis vom Taschenrechner zu erfahren. Und er wird erwarten, dass du Zeit mit ihm verbringst. Ihn als sichere Person begreifst, in dessen Arme du rennen kannst, mit dem du Konflikte lösen kannst, und der seine Perspektive statt deiner anbietet, nachdem er gründlich nachgefragt hat, wie denn dein Erleben der Situation ist. Wenn du selbst drauf kommst- lässt er dich weiterspielen, solange du seine Regeln nicht allzu torpedierst.

Und noch eins:

Wer nicht auf den Baum klettern kann, selbstständig, hat dort nichts zu suchen.

Ein Kind, dem man hinaufhilft, dem muss man auch wieder hinabhelfen, und das ist schwerer als es scheint. Pflaster, Wundsalbe und Kühlpacks sind reichlich vorhanden.

Aber hinauf- musst du schon selbst. Annehmen, was er dich lehrt- musst du schon selbst. Anwenden, was er dir zeigt- musst du selbst.

Und glaube mir: Der Heilige Geist ist ein großer Fan des sinnerfassenden Lesens, der Auseinandersetzung mit dem, was Jesus gesagt hat, und er besteht darauf, dass im Zweifelsfalle dein Rechenweg falsch ist. Aber er wird es dir solange erklären, bis du es kapiert hast. In Engelsgeduld, gegen alle Bockigkeit, und an deiner Seite.


Instant Yum Yum Nudeln- bietet er dir nicht an.


Seid gesegnet.

Sibylle/Zionstochter.


Quellen:

Die Bibel. Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen (www.scm-brockhaus.de) Mit freundlicher Genehmigung von SCM.

Foto: Wix.com

Song: The Bowery-Time and again


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